sagenwanderung

Unzufrieden flog Cora im Kreis herum. Unter ihr tanzten kleine Wattewölkchen im Kreis oder starteten Wettflüge. Neugierig betrachtete die Unzufriedene sie. Diese flauschigen Bäuschchen hatten die Dunkelelfe auf eine Idee gebracht. Sie bat die verspielten Wölkchen zur Seite, um einen Blick auf die Menschenwelt zu ihren Füßen zu werfen. Der Staat Österreich lag in ihrem Blickfeld. Cora breitete ihre pechschwarzen Drachenflügel weiter aus, um auf eine tiefer gelegene Wolke zuzusegeln. Sanft landete sie auf dem weißen Wattebausch, der leise seufzte. „Entschuldige, bitte!“, sprach die Elfe mit sanfter Stimme, „doch ich möchte das Menschenvolk im Auge behalten. Irgendjemand muss ja auf sie aufpassen! Wer weiß, was die als Nächstes anstellen!“ Die Wölkchen kicherten. Sie schoben sich vor die Sonne, damit Cora, die sie tadelnd ansah, nicht von der Sonne geblendet wurde, die ebenfalls zu glucksen begann. „ Das ist nicht lustig!“, fauchte die Dunkelelfe, „ich muss euch wohl an die Luftverschmutzung in LA und New York erinnern!“ Schlagartig Stille. Cora dachte nach. Jäh erhellte sich ihre zweifelnde Miene. Sie grinste: „Am 18. Mai plant eine Schulklasse einen Ausflug nach Wien! Ein Kind wird ‚zufällig‘ verhindert sein. Ich werde seinen Platz einnehmen und auf die kleinen Racker aufpassen. Anschließend werde ich dem Kind, dessen Gestalt ich angenommen habe, die Ereignisse ins Gedächtnis schleusen.“

Gesagt, getan. Bald schon wurde Cora, von den zarten Wattewölkchen getragen, hinab zu dem Planeten mit dem sonderbaren Namen „Erde“ gebracht. Sie war schlank und blondes Haar fiel ihr den halben Rücken hinab. Ihre Augen waren von einer hübschen Mischung aus orange, blau und grün. Cora hieß von nun an Denise Schnabel. Unten angekommen stieg „Denise“ von den Wolken herunter. Es war früher Morgen und sie landete in der Schneckgasse. Zielstrebig trugen ihre Beine sie in Richtung Schulgebäude. In ihrem Klassenraum angekommen, wurde die verwandelte Dunkelelfe von einer Schülerschar begrüßt. Nachdem die Professorinnen Gruber und Krenn sich eingefunden hatten, trat die Klasse den Gang zum St. Pöltner Bahnhof an. Während der Zugfahrt vertrieben sich viele Schüler und Schülerinnen die Zeit mit dem Spiel „Pflicht, Wahl, oder Wahrheit“. So auch Denise.

In Wien angekommen, verteilten die Lehrpersonen Stadtpläne der Landeshauptstadt Österreichs. Langsam begriff Cora, alias Denise, was diese Klasse zu erleben gedachte: eine „Sagenwanderung“. „Was auch immer das sein mag!“, dachte die Elfe. „Ich werde es schon noch sehen!“, lauteten ihre darauf folgenden Gedanken.

Die Stadtpläne benutzten die Kinder nun, um einen gewissen Ort namens „Freyung“ zu finden. Dort hielt ein Mädchen namens „Sakura“ ein Referat. Es war eine Sage, die sie erzählte. „Der Heidenschuss …“, begann das Mädchen. Ihr Vortrag handelte von den Türken, die einst Österreich einnehmen wollten. Da begriff Denise, alias Cora: diese Klasse nahm heuer die Textsorte „Sagen“ durch und jeder Schüler durfte eine Sage erzählen, also ein Referat halten. Nach der Erzählung Sakuras bestaunten alle eine Statue an einem Gebäude „Dies ist der Heidenschuss!“, erklärte die Referentin.

Bevor sie sich auf den Weg machten, galten nochmals viele Blicke dem Heidenschuss an der Hausmauer. Die Gefühle dazu waren sehr unterschiedlich. Meist war es aber Bewunderung. Es müssen Künstler gewesen sein, die Wien mit solchen Kunstwerken schmückten! Auch die Elfe betrachtete die Statue ein letztes Mal. Was war das? Hatte das in STEIN gemeißelte Kunstwerk etwa eben den Kopf gedreht?

Wien steckte wirkliche voller Wunder!

Des nächsten Referenten Sage hieß: „Der Stock im Eisen“. Der Vortragende hieß Felix und auch ihm lauschten dreiundzwanzig Ohrenpaare, als er erläuterte, wie der „Stock ins Eisen“ kam. Cora hatte noch nie so viel an einem Tag über Wien gelernt wie heute. Genau wie all die anderen musterte sie die Nägel, die zu Gedenken an einen Schlosser in eine Säule geschlagen wurden. Auch dieses Mal zeigte sich Leben in dem Zeichen der Sage. Die Nägel stöhnten, als wären sie es leid, den lieben langen Tag nutzlos in einem Kunstwerk festzustecken. Sonderbar, denn niemand außer der Elfe schien es zu bemerken.

Die nächste Station war der Stephansdom, das Wahrzeichen der Stadt. Er war im gotischen Baustil erschaffen und unglaublich hoch. Ein kleines Stück liefen die Schüler und Lehrer um die Kathedrale herum. In einer Nische standen zwei Bäume. Eine der Professorinnen unterrichtete Biologie und erklärte die Baumarten. Denise, die Elfe, jedoch, lauschte den Worten der Blätter. Die beiden Bäume flüsterten mit hauchzarten Stimmen. Cora konnte keine Worte verstehen, sondern nur das liebevolle Geflüster der Pflanzen rauschen hören.

Die Referentin sprach die ersten Worte und auch die Blätter verstummten, um ihrem Vortrag zu lauschen. Wie sozial! Wien Steckte voller Wunder! Der Name der Sage lautete: „Die Linde bei St. Stephan“. Hier wollte ein Pfarrer nicht, dass seine Linde gefällt wurde.

Nach einer kurzen Foto-Pause bekamen sie von einem Matteo zu hören, wie der Hahn auf das hintere Ende des Daches des Stephansdomes kam. Auch dieses Zeichen einer weiteren lehrreichen Sage gab zu erkennen, dass es lebte. Ein tonloses „Ki-keri-ki!“ kam aus dem weit aufgerissenen Schnabel des Wetterhahnes.

Nach diesem Referat war der „Zahnwehherrgott“ an der Reihe. Die Statue befindet sich im Stephansdom. In der Kirche waren viele Touristen und so musste eine Referentin namens Katrin neben den Blitzlichtern von Kameras ihren Vortrag halten. In dieser Sage jagte der Herrgott drei Männern einen Zahnweh-Fluch auf den Hals, da diese sich über seine Statue lustig gemacht haben.

Nach einer gemütlichen Mittagspause hörten die Schülerinnen und Schüler die spannende Geschichte über den Basilisken, der in einem Brunnen saß und vor Schreck platzte, als man ihm einen Spiegel vor die Fratze hielt.

Darauf folgte Hansi mit dem lieben Augustin. „Oh, du lieber Augustin, Augustin…“, sang die Referentin. Nachdem Denise, alias Cora, auch Lebensanzeichen bei der Basiliskenstatue entdeckt hatte, wunderte sie sich nicht, dass der Puppen-Augustin seufzte.

Nach dieser Sage, in der Augustin dem schwarzen Tod entkam, folgte das „Donauweibchen“. Sie wurde von Hanna unter einem Baum im Wiener Stadtpark vorgetragen. Auch diesen Baum hörte die vermeintliche Denise flüstern. Er kommentierte den Vortrag, in dem das Donauweibchen einen Fischersohn auf die Gründe der Donau lockte, wo der Donaufürst seine Seele einsperrte.

Nach diesem letzten Vortrag beeilte sich die Klasse, die richtigen Verkehrsanschlüsse zu erwischen. Da die U-Bahn bedauerlicherweise einige Minuten zu spät kam (ja, das kann auch den ÖBB passierenJ), erreichten die Schülerinnen und Schüler den St. Pöltner Bahnhofeine halbe Stunde später.

Zurück in den Wolken überdachte Cora – wieder in Dunkelelfengestalt – alles, was sie an diesem lehrreichen Tag über diese kleine Stadt erfahren hatte. „Diese Stadt – Wien – lebt ja förmlich vor Vergangenheit und vor Farben. Ich habe heute so viel gelernt - und das bei der Exkursion einer Schulklasse! Ich sollte das öfter unternehmen!“, fasste sie den Entschluss, „ein solcher Ausflug bringt dem Elfenarchiv mehr Informationen, als ich je zu träumen gewagt habe!“

Sie hatte Recht. So eine Sagenwanderung bringt Informationen. Aber nicht nur dem Elfenarchiv! Auch wir Schüler profitierten davon!

Eva Engel, 2C